Meinen ganz persönlichen Bedarf ermitteln: Persönliche Zukunftsplanung

Mit dem BTHG wird ein Teilhabe- oder Gesamtplan zur Planung professioneller Unterstützungsleistung verpflichtend. Welche Rolle kann die Persönliche Zukunftsplanung dabei spielen? Unabhängig von angedachten Verfahren wird die Partizipation der Betroffenen in den neuen Verfahren nur bei entsprechender Haltung der Professionellen gelingen. [1]

Planungsprozesse als Indikatoren für Partizipation

Wenn ich auf staatlich finanzierte Unterstützungsleistungen zur Herstellung von Teilhabe angewiesen bin, ist eine individuelle Bedarfsermittlung als Grundlage einer verpflichtenden Teilhabe-, Hilfe- oder Gesamtplanung notwendig. Die Rehabilitationsträger und die Bundesländer sind durch den Gesetzgeber verpflichtet, entsprechende systematische und standardisierte Instrumente der individuellen Bedarfsermittlung mit Bezug auf die ICF zu entwickeln und für eine Umsetzung einer verzahnten Teilhabe-, Hilfe- und Gesamtplanung zu sorgen. Das SGB IX ermöglicht mit der Fokussierung auf Selbstbestimmung und Teilhabe, dem Grundsatz der individuellen Hilfen, dem Wunsch- und Wahlrecht und der Möglichkeit eines persönlichen Budgets prinzipiell Partizipationsspielräume. Die Planungsprozesse selbst sind dabei ein Testfall für den Grad der Partizipation im engeren Sinne, der Mitbestimmung an der Gestaltung meines Lebens.

Die tatsächlichen Partizipationsspielräume der Planenden hängen dabei einerseits von der Ausgestaltung der Verfahren und anderseits maßgeblich von der Haltung der Professionellen ab. So entscheidet sich, ob aus dem Planenden ein Geplanter wird.

Diverse Ansätze der Bedarfsermittlung

Die neuen gesetzlichen Anforderungen an die Bedarfsermittlungsverfahren haben zu einem Prozess der Vereinheitlichung und Weiterentwicklung der Bedarfsermittlungsinstrumente geführt. Gleichwohl gibt es z.B. im Rahmen der Eingliederungshilfe in den Bundesländern teils sehr unterschiedliche Ansätze. Bisher veröffentlichte und ausformulierte Ansätze der Bedarfsermittlung sind u.a.[2]:

  • Der Integrierte Teilhabeplan (ITP) in jeweils länderspezifischer Fassung in Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Thüringen
  • Das einheitliche Bedarfsentwicklungsinstrument für Nordrhein-Westfalen (BEI_NRW) und Baden Württemberg (BEI_BW).
  • Das Instrument Bedarfs-Ermittlung-Niedersachsen (B.E.Ni) sowie die länderspezifische Variante B.E.Ni Bremen
  • Das Teilhabeinstrument Berlin (TIB)

Planen wird zur bürokratischen Verpflichtung

In den vorliegenden Bedarfsermittlungsverfahren wird deutlich, wie Verwaltungs-, Dokumentations- und Datenschutzanforderungen einer möglichst gut handhabbaren systematischen und standardisierten Vorgehensweise die Vorlagen prägen[3] und ein Spannungsfeld zwischen dem Partizipationsanspruch und dem Massengeschäft der Antragsbearbeitung besteht[4]. Die Formulare erinnern teils an die üblichen standardisierten Erhebungsbögen mit ihrer Fülle von erforderlichen Angaben. Schriftliche Planung und Dokumentation drohen manchmal zur reinen Rechtfertigungsübung zu verkommen, mit vielen kleinen smarten Zielen, die nur bedingt positiven Auswirkungen auf die Lebensqualität und die Zukunft der Person haben. Planen wird hier zur bürokratischen Verpflichtung auf dem Weg zur für die Person notwendigen Unterstützung der Teilhabe.

Einige Teile einiger Bedarfsermittlungsinstrumente sind bewusst dialogisch als Gesprächsleitfaden zur Erfassung und Erarbeitung der Leitziele, Wünsche und konkreten Ziele in den verschiedenen Lebensbereichen, aber auch der förderlichen und negativen Umweltfaktoren und der persönlichen Ressourcen verfasst (z.B. BEI, ITB, TIB). Das ist zu begrüßen, denn es ist für ein selbstbestimmtes Leben unerlässlich, im Dialog mit der Person und ihrem Umfeld zu erkunden, wo der individuelle Bedarf besteht und wie hilfreiche Unterstützung aussehen kann.

Es zeigt sich aber, dass viele Betroffene Unterstützung in der Formulierung eigener Ziele benötigen.[5] Es geht hier auch um große Fragen wie „Wie möchten Sie leben? Wie und wo möchten Sie wohnen? Was möchten Sie arbeiten? Was möchten Sie lernen? Was wollen Sie in Ihrer Freizeit machen? Wie wollen Sie Ihre Beziehungen zu anderen Menschen gestalten? Was soll so bleiben? Was soll sich ändern?“ (vgl. TIB, BEI).

Wie möchten Sie leben?

Es geht dabei nicht nur um Formulierung, sondern für einige Menschen auch um Raum und Zeit herauszufinden, was sie eigentlich möchten und sich mit ihren Träumen und Zielen, ihrer Behinderung und ihren Stärken und Fähigkeiten auseinanderzusetzen und für sich passende Unterstützungsarrangements im Sozialraum zu erkunden. Ohne neue personenorientierte und sozialräumliche Unterstützungsangebote wird sich dieser Bedarf nicht decken lassen. Es bedarf also auf Grundlage der individuellen Bedarfsermittlungen unbedingt im Rahmen einer kommunalen Teilhabe- und Aktionsplanung auch einer regionalen Bedarfsermittlung von zukünftig notwendigen Unterstützungsangeboten. Nach § 94 SGB IX haben die Länder den Auftrag auf „flächendeckende, bedarfsdeckende, am Sozialraum orientierte und inklusiv ausgerichtete Angebote von Leistungsanbietern hinzuwirken“.

Assistenz zur persönlichen Lebensplanung

Nun hat der Gesetzgeber nicht nur die Bedarfsermittlung sowie die Teilhabe-, Hilfe- und Gesamtplanung durch die Leistungsträger im Sozialgesetzbuch IX seit dem 1.1.2018 neu gestaltet, vereinheitlicht und stärker ausdifferenziert, sondern auch zum ersten Mal übergreifend den Begriff der Assistenzleistung in § 78 SGB IX definiert und beispielhaft wesentliche Assistenzbereiche aufgeführt.

Als ein wesentlicher Bereich der Assistenz wird dort die „persönliche Lebensplanung“ (§ 78 Abs. 1 SGB IX) genannt. Hier besteht ein Ansatzpunkt, zukünftig für Personen mit Beeinträchtigung eine umfassende persönliche Lebensplanung als qualifizierte Assistenz durch entsprechend geschulte Fachkräfte zu begleiten und mit Methoden der Persönlichen Zukunftsplanung gestalten zu können.

Während es sich bei der Teilhabe-, Hilfe- oder Gesamtplanung des Leistungsträgers um die vorgeschriebene, leistungsrechtliche Bedarfsermittlung und Zuweisung der im Einzelfall erforderlichen Leistungen handelt, die in einem möglichst kurzen Zeitraum von 2-6 Wochen erfolgen soll, ermöglicht die Assistenz bei der persönlichen Lebensplanung eine tiefer gehende und umfangreichere Persönliche Zukunftsplanung.

Persönliche Zukunftsplanung: partizipativ und unabhängig

Bei einer Persönlichen Zukunftsplanung geht es zunächst darum, alleine oder mit Hilfe eines selbst gewählten Unterstützungskreises eine Vorstellung von einer wünschenswerten Zukunft zu entwickeln und diese dann gemeinsam Schritt für Schritt umzusetzen. Persönliche Zukunftsplanung ist im Gegensatz zu einer Teilhabe-, Hilfe- oder Gesamtplanung freiwillig und wird mit einem selbst gewählten Kreis von Unterstützer*innen durchgeführt. Die Person selbst ist einladende Person, bestimmt die Regeln und die Gästeliste. Eingeladen werden Familienmitglieder, Freunde, Bekannte und eben auch hilfreiche Professionelle. Grundlage der Einladung ist die persönliche Beziehung und Freiwilligkeit, keiner muss qua Amt und Funktion kommen.

Dies ist anders als bei einer Teilhabe- oder Gesamtplankonferenz, wo der Leistungsträger plant und einlädt, die meisten Teilnehmer*innen durch Amt und Funktion feststehen, die Person lediglich eine Person des Vertrauens mitbringen darf und die Regeln des Verfahrens und der Ablauf gesetzlich vorgeschrieben sind.

Um die Teilhabe zu gestalten, ist es im Sinne einer Personenorientierung wichtig, nicht nur die planende Hauptperson, sondern auf Wunsch der Person alle für eine Veränderung wichtigen Personen einbeziehen zu können.

Ausgangspunkt einer Persönlichen Zukunftsplanung ist oft ein persönlich empfundener Veränderungsbedarf und ein selbst gewählter Themenschwerpunkt der Planung. Das Format des Prozesses ist nicht vorgeschrieben, es gibt verschiedene methodische Möglichkeiten, die individuell ausgewählt und angepasst werden können.[6]

Assistenzleistung zur persönlichen Lebensplanung

Persönliche Zukunftsplanungen werden von entsprechend ausgebildeten, unabhängigen Moderator*innen vorbereitet und moderiert, Planungen werden oft mit Bildern graphisch durch eine zweite graphische Moderator*in visualisiert. Persönliche Zukunftsplanung könnte auch gut unabhängig von Einrichtungen als Assistenzleistung zur persönlichen Lebensplanung von unabhängigen Moderator*innen und Beratungsstellen angeboten werden.

Persönliche Zukunftsplanung ist als längerfristiger Prozess angelegt und dient der kontinuierlichen Verbesserung der Lebensqualität und Erreichung von Zielen der Person. Eine Persönliche Zukunftsplanung mit der intensiven Beschäftigung mit der eigenen Person, den verschiedenen Möglichkeiten und Hindernissen, dem Erkunden der Träume und Herauskristallisieren der persönlichen Ziele und häufig mehreren Treffen mit einem Unterstützungskreis würde den Rahmen eines offiziellen Teilhabe-, Hilfe- oder Gesamtplanungsverfahrens sprengen.

Vorbereitung auf die offizielle individuelle Bedarfsermittlung

Eine Persönliche Zukunftsplanung kann wiederum eine hervorragende Vorbereitung auf die offizielle individuelle Bedarfsermittlung im Rahmen einer Teilhabe-, Hilfe- oder Gesamtplanung sein. Gerade bei der Gestaltung von Übergängen oder wenn eine intensivere persönliche Lebensplanung gemacht werden soll, kann es deshalb sinnvoll sein, als erste Maßnahme Assistenzleistungen zur persönlichen Lebensplanung zum Beispiel im Rahmen einer unabhängig moderierten Persönlichen Zukunftsplanung mit Unterstützungskreis zu bewilligen. Es gibt somit immer einen Bedarf an Persönlicher Zukunftsplanung zur Bedarfsermittlung, wenn die Person zunächst Raum und Zeit und Unterstützung benötigt, sich ihrer Wünsche, Lebensziele und Bedarfe bewusst zu werden. Die Methoden der Persönlichen Zukunftsplanung bieten sich an, die Assistenz zur persönlichen Lebensplanung fachlich anspruchsvoll zu gestalten und eine wirklich fundierte, partizipative individuelle Bedarfsermittlung aus Sicht der Person durchzuführen.


[1] Dieser Artikel wurde zuerst veröffentlicht unter
Doose, Stefan: Meinen ganz persönlichen Bedarf ermitteln. Persönliche Zukunftsplanung. In: Die Orientierung (2019), H.2, 24-26.

Er wurde aktualisiert und basiert auf den ausführlichen Artikeln:

Doose, Stefan, Persönliche Zukunftsplanung als Methode der Assistenz zur persönlichen Lebensplanung (§ 78 SGB IX-neu), 2017, https://zukunftsplanungblog.wordpress.com/2017/10/16/persoenliche-zukunftsplanung-als-methode-der-assistenz-zur-persoenlichen-lebensplanung-%c2%a7-78-sgb-ix-neu/ und

Doose, Stefan, Partizipation im Rahmen von Prozessen der Hilfe- und Zukunftsplanung, in: Düber, Miriam, Rohrmann, Albrecht, Windisch, Marcus (Hrsg.), Barrierefreie Partizipation. Entwicklungen, Herausforderungen und Lösungsansätze auf dem Weg zu einer neuen Kultur der Beteiligung, Weinheim und Basel 2015, 342-355.

[2] Vgl. Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR), Bedarfsermittlung in den Bundesländern, 2.5.2019, https://www.reha-recht.de/infothek/beitrag/artikel/bedarfsermittlungsinstrumente-in-den-bundeslaendern/, Datum des Zugriffs 21.12.2019

[3] Gromann, Petra, Umsetzungsbegleitung BTHG, Der Integrierte Teilhabeplan „ITP“ als Bedarfsermittlungsinstrument in mehreren Bundesländern, 5.12.2018, https://umsetzungsbegleitung-bthg.de/w/files/links-und-downloads/gromann-einfuehrung-itp-in-mehreren-bundeslaendern.pdf, Datum des Zugriffs 21.12.2019

[4] Beyerlein, Michael, Rambausek-Haß, Tonia, Partizipation in der Bedarfsermittlung, Was ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz?, impulse (2018), H. 3, 21 auch online https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d28-2018/ / https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d29-2018/ , Datum des Zugriffs 21.12.2019

[5] Budinger, Klaus, Sylupp, Ariane, „Ziele für sich alleine festlegen und nicht mehr für andere“, in: Gromann, Petra (Hrsg.), Teilhabeorientierte Steuerung, Bonn 2015

[6] Ausführliche Literatur- und Linkliste unter https://www.persoenliche-zukunftsplanung.eu/materialien/methoden-ueberblick.html

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