Mitten im Advent – der Zeit des Erwartens des zukünftigen Weihnachtsfests – regt uns Roland Frickenhaus mit seiner Kolumne „Leben ist das, was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben – oder: vom Unsinn der Zukunftsplanung“ bei kobinet an, uns damit auseinanderzusetzen, ob Zukunftsplanung überhaupt Sinn hat und ob sich Menschen mit Unterstützungsbedarf eine vom Staat verordnete Planung gefallen lassen müssen.
Anlass gibt das BTHG, das aktuell umgesetzt wird: Das Gesetz gibt vor, dass jemand, der auf staatlich finanzierte Unterstützungsleistungen zur Ermöglichung von Teilhabe angewiesen ist, verpflichtend an einer individuellen Bedarfsermittlung als Grundlage einer Teilhabe- oder Gesamtplanung teilnehmen muss.
Roland Frickenhaus setzt gesetzlich verordnete Teilhabeplanung mit „Zukunftsplanung“ gleich. Die begriffliche Ähnlichkeit fordert den Widerspruch von Menschen heraus, die sich seit vielen Jahren für Persönliche Zukunftsplanung als Haltung und Methode engagieren. Als Vorstand des deutschsprachigen Netzwerk Persönliche Zukunftsplanung e. V., einem Verein mit über 300 Mitgliedern wollen wir mit dieser Stellungnahme differenzieren und Unterschiede deutlich machen.[1]
„Persönliche Zukunftsplanung ist ein wegweisendes Konzept, eine Einstellung und Denkweise sowie eine Sammlung verschiedenster Methoden und Moderations-Verfahren. Es geht darum, mit Menschen über ihre Zukunft nachzudenken und Ziele zu setzen.“[2]
Persönliche Zukunftsplanung unterscheidet sich in vielen Punkten von der gesetzlich verordneten Teilhabe- oder Gesamtplanung:
- Persönliche Zukunftsplanung ist freiwillig und wird mit einem selbst gewählten Kreis von Unterstützer*innen durchgeführt.
- Die Person selbst ist einladende Person, bestimmt die Regeln und die Gästeliste.
- Die Person bestimmt auch den Zeitpunkt der Planungsgespräche. Ausschlaggebend ist, dass die Person etwas verändern will und/oder Ereignisse in der nächsten Zeit neue Entscheidungen erfordern (Schulwechsel oder -Ende, Umzug, berufliche Orientierung, …). Der Zeitpunkt der Planungsgespräche hat nichts mit Finanzierungs-Befristungen zu tun.
- Die planende Person und die Unterstützer*innen beschäftigen sich mit einer selbstgewählten Fragestellung.
- Persönliche Zukunftsplanung ist ergebnisoffen. Dies wird durch eine unabhängige Moderation durch ausgebildete und von der Person gewählte Moderator*innen sichergestellt.
- Persönliche Zukunftsplanung macht mit passenden Visualisierungen Ideen und Vereinbarungen anschaulich. Es gibt keine standardisierten Formulare.
- Persönliche Zukunftsplanung ist als längerfristiger Prozess angelegt und hat nichts mit Zeit-Sparen zu tun. Ein Planungstreffen dauert oft mehrere Stunden.
- Persönliche Zukunftsplanung dient der kontinuierlichen Verbesserung der Lebensqualität und Erreichung von Zielen der Person, nicht den Zielen einer Verwaltung.
Roland Frickenhaus beruft sich darauf, dass Pädagogik Beziehungsarbeit ist und unterstellt, dass diese durch das Aufstellen eines Planes ersetzt werden soll. – In einem der Kommentare auf der kobinet-Seite wird darauf verwiesen, dass man bei der Unterstützung von erwachsenen Menschen nicht mehr von Pädagogik sprechen sollte. Dem stimmen wir zu, aber abgesehen davon: Warum sollte nicht sowohl Beziehung als auch Planung möglich sein? – Menschen brauchen jemanden, der ihnen zuhört und sie ermutigt, mit ihnen über wichtige Themen nachdenkt und bei der Umsetzung unterstützt. Nicht nur Menschen, die mit Persönlicher Zukunftsplanung arbeiten, haben Erfahrung darin, dass es die Vielfalt der Beziehungen ausmacht, wie tragfähig das Netz ist: vertraute Menschen und nur flüchtig Bekannte, Unterstützer*innen und Bedenkenträger*innen, Nachbarschaft, Profis und bürgerschaftlich Engagierte,… Ein Unterstützungsnetzwerk braucht Koordination und damit auch Planung, um zu funktionieren.
Roland Frickenhaus ist nicht der Einzige, der die bürokratische Verpflichtung zur Teilhabeplanung auf dem Weg zur notwendigen Unterstützung kritisch sieht. Stefan Doose hat sich in einem sachlich differenzierten Artikel damit auseinandergesetzt und kommt zu dem Schluss:
„Die tatsächlichen Partizipationsspielräume der Planenden hängen dabei einerseits von der Ausgestaltung der Verfahren und anderseits maßgeblich von der Haltung der Professionellen ab. So entscheidet sich, ob aus dem Planenden ein Geplanter wird.“[3] (Doose, 2019)
Auch Beyerlein und Rambausek-Haß verweisen darauf, dass die Partizipation der Betroffenen in der Bedarfsermittlung nicht ausreichend gesetzlich verankert ist.[4]
Roland Frickenhaus schreibt, dass es andere Zugänge braucht als die Befragung durch Fremde. – Persönliche Zukunftsplanung kann eine hervorragende Vorbereitung auf die offizielle individuelle Bedarfsermittlung im Rahmen einer Teilhabe- oder Gesamtplanung sein. Im § 78 Abs. 1 SGB IX (Assistenz zur persönlichen Lebensplanung) eröffnet der Gesetzgeber sogar eine Finanzierungs-Möglichkeit dafür.
Viel weitreichender als die Skepsis gegenüber der Bedarfsplanung geht jedoch Frickenhaus‘ Aussage, dass Zukunftsplanung grundsätzlich unsinnig ist. – Er argumentiert, dass Zukunft nicht planbar und vorhersehbar sei. Das liest sich deterministisch, fast schon schicksalsergeben. – Vor allem ist es Schwarz-Weiss-Malerei, wenn man ALLES als unvorhersagbar oder ALLES als gestaltbar annimmt. – Schon kleine Kinder wissen, dass es SOWOHL ALS AUCH gibt und entwickeln Verhandlungsgeschick, um ihren Gestaltungsspielraum zu erweitern. – Beteiligung an der Bedarfsermittlung ist auch eine Einladung, den eigenen Gestaltungsspielraum wahrzunehmen.
Roland Frickenhaus ignoriert, dass fast alle Menschen fast immer eine Vorstellung bzw. Erwartung haben, wie etwas in Zukunft sein könnte. – Wie sonst ließen sich Phänomene wie Vorfreude, Hoffnungen, die Pointe bei einem Witz aber auch Ängste und Befürchtungen erklären? Joseph Beuys hat formuliert: „Die Zukunft, die wir wollen, müssen wir selbst erfinden! Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“ – Menschen haben sogar die Fähigkeit, sich mehrere Varianten auszumalen, als Beispiel diene der sprichwörtliche „Plan B“. Diese Vorstellung hat eine motivierende Wirkung auf das Leben der Gegenwart und sie bewirkt, dass wir selbst und jetzt aktiv werden.
„Sie ermöglicht uns, fundierte Entscheidungen im Hier und Jetzt zu treffen, was uns vielleicht in eine bessere Zukunft führen könnte.“[5] (Glen, 2009)
Die Fähigkeit des Menschen sich mehrere Lösungswege vorzustellen bringt ihn erst dazu, sich für einen bestimmten Weg zu entscheiden.
Frickenhaus äußert Bedenken, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Schwierigkeiten haben können, über die eigene Zukunft nachzudenken. – Es stimmt, dass „nur Nachdenken“ manchmal reicht, wenn alles so bleiben soll wie es ist. Für Veränderungsprozesse reicht „nur Nachdenken“ oft nicht (ob mit oder ohne kognitive Beeinträchtigung): Sich in einem Übergang zu befinden, bedeutet ein hohes Maß an Ungewissheit, aber gleichzeitig Freiheit für neue Ideen und Entwicklungen. Alle Beteiligten können nicht mehr (gedankenlos) weitermachen wie bisher, sondern müssen sich bewusster entscheiden für oder gegen einen neuen Ort, eine neue Rolle, ein neues Miteinander. Viele Menschen müssen daher konkret ausprobieren und eigene Erfahrungen machen dürfen, um zu spüren, was für sie passt um sich erst dann zu entscheiden. – Es scheint also notwendig, zunächst Neugier, vielleicht Sehnsucht nach Veränderung und Ideen von Alternativen zu wecken, und sich dann auf einem „Weg der kleinen Schritte“ nach und nach neuen Möglichkeiten anzunähern. Das gilt in der Behindertenhilfe sowohl für unterstützte Personen als auch für Mitarbeiter*innen und Einrichtungen und hat mit kognitiver Beeinträchtigung nur am Rande zu tun.
Diese Überlegungen kommen in Roland Frickenhaus‘ Text nicht vor. – Er schreibt, dass die Voraussetzung für ein gelingendes Leben nicht Planung, sondern situatives Reagieren und Ausprobieren von Wegen ist. – Situatives Reagieren fällt allerdings leichter, wenn man die Situation schon mal gedanklich durchgespielt hat!
Die reale Schaffung von Wahlmöglichkeiten wird die große Herausforderung für die Umsetzung des BTHG und die damit verbundene Bedarfsermittlung werden: Denn auch mit standardisierten Formularen und mit Bezug auf die ICF wird häufig klar werden: Für diesen Bedarf gibt es keine/zu wenig Angebote. Die Herausforderung wird sein, Probephasen und Umwege (auch finanziell) zu ermöglichen, damit unterstützte Menschen wirklich von ihrem Wunsch- und Wahlrecht möglichst selbstbestimmt Gebrauch machen können!
In diesem Sinne brauchen Menschen immer wieder Gelegenheiten, ihre Wünsche, Erwartungen und Ziele für ihr Leben zu formulieren und gangbare Schritte auszuloten. Denn das Leben ist eben doch planbar und gestaltbar – auch wenn manches einfach so passiert. Was es vor allem braucht sind Pläne, die aus Ideen, Phantasie, Kreativität und Flexibilität erwachsen. Es lebe also die Zukunftsplanung!
[1] Eine aktuelle Darstellung der Persönlichen Zukunftsplanung findet sich unter: https://www.lebenshilfe.de/fileadmin/Redaktion/PDF/Wissen/public/Zeitschrift_Teilhabe/DOOSE_Persoenliche_Zukunftsplanung_Seiten176-180_ausTeilhabe_4_2019.pdf
[2] Qualitätskriterien für Persönliche Zukunftsplanung, abrufbar unter: https://zukunftsplanungblog.wordpress.com/2019/11/09/qualitatskriterien-fur-personliche-zukunftsplanung/
[3] Stefan Doose: Meinen ganz persönlichen Bedarf ermitteln Persönliche Zukunftsplanung. In: Orientierung: 2/2019, Bedarfsermittlung, auch online: https://zukunftsplanungblog.wordpress.com/2019/12/21/meinen-ganz-personlichen-bedarf-ermitteln-personliche-zukunftsplanung/
[4] Beyerlein, Michael, Rambausek-Haß, Tonia, Partizipation in der Bedarfsermittlung, Was ändert sich durch das Bundesteilhabegesetz?, impulse (2018), H. 3, 21 auch online https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d28-2018/ (Teil I) https://www.reha-recht.de/fachbeitraege/beitrag/artikel/beitrag-d29-2018/ (Teil II), Datum des Zugriffs 19.12.2019